Führungskräfte 50+ in Deutschland

So verschleudern Unternehmen wertvolle Potenziale

Andreas W. ist fassungslos. Seit fast zwei Jahrzehnten ist er einer der erfolgreichsten Profit-Center-Leiter eines renommierten Beratungshauses, als er ohne konkreten Grund von der Unternehmensleitung das Angebot erhält, in ein „Eckzimmer“ umzuziehen. Bedeutet: Er soll seinen Platz an der Spitze des Standortes innerhalb von nur vier Wochen für einen jüngeren Nachfolger räumen und künftig nur noch als „normaler“ Consultant für das Unternehmen tätig sein. Eine wirkliche Wahlmöglichkeit hat er nicht und mit 53 Jahren stehen seine Chancen, in der Kürze der Zeit eine adäquate Alternative zu finden, eher schlecht. Also stimmt er dem Angebot zu, mit nachvollziehbaren Auswirkungen auf seine Motivation, sein Engagement und vor allem auch auf seine Loyalität. Eine „Umstrukturierung“, wie sie in deutschen Unternehmen nur allzu oft stattfindet. Das Fatale: Impuls für solche Degradierungen ist meist der Wunsch, eine Stelle mit einem leistungsstärkeren, weil jüngeren Kandidaten zu besetzen. Dafür werden wertvolle Potenziale erfahrener und loyaler Mitarbeiter einfach in die Abstellkammer verbannt und nicht mehr genutzt. In vielen Fällen eine Minusrechnung.

Theoretisch ist das Recruiting und die Förderung von Führungskräften ab 50 in Deutschland ein viel beschworener Trend und wird Unternehmen, die personaltechnisch am Puls der Zeit sein wollen, unbedingt geraten. Gründe dafür gibt es genügend. Angefangen von dem seit langem beliebten Diversity-Ansatz bis hin zu mittlerweile zahlreichen Studien, die allesamt belegen, was eigentlich ohnehin auf der Hand liegt. Mitarbeiter und vor allem Führungskräfte 50+, die also bereits zwischen 20 und 30 Jahre Berufsweg hinter sich haben, bringen ein beachtliches Portfolio mit: Jede Menge Erfahrung, langjährig gepflegte Netzwerke, Disziplin, eine hohe Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, in aller Regel eine abgeschlossene Familienplanung und sehr viel mehr Flexibilität und Lernbereitschaft als allgemein angenommen. Das angebliche Risiko von altersbedingt steigenden Kranktagen wurde bereits statistisch widerlegt.
Ergo spricht wenig gegen und im Gegenteil sehr viel für Mitarbeiter in den besten Jahren. Trotzdem ist in der Praxis davon nicht viel zu spüren. In nicht wenigen Firmen gehört mangelnde Wertschätzung, der sukzessive Entzug von Verantwortung und das sogenannte „wegloben“ quasi zur Unternehmenskultur. Das Verschleudern von wertvollem Erfahrungspotenzial wird dabei gerne in Kauf genommen, um dem hoch qualifizierten Nachwuchs Platz zu machen.

Besonders fatale Folgen kann diese stereotype Abstellgleis-Taktik im Fall von Führungspositionen haben. Dann nämlich, wenn entscheidende Stellen mit Führungskräften aus Überzeugung besetzt sind. So wie Wolfgang B., mit Leib und Seele Führungskraft und Bereichsleiter in einem deutschen Konzern. Er brennt für seinen Job, sein Vorgesetzter ist von ihm überzeugt und auch bei seinen mehr als 500 Mitarbeitern ist er beliebt. Kein Wunder: er engagiert sich sehr, seinen Teamleitern und auch Mitarbeitern ein guter Mentor zu sein, indem er Einzelgespräche führt, ehrliches Feedback gibt, Wege zur Weiterentwicklung ebnet und sein Netzwerk im Unternehmen für Empfehlungen nutzt. Diese Verantwortung bedeutet ihm viel, sie trägt ihn und ist ein wichtiger Teil seiner Motivation. Er setzt sich nicht nur aus Überzeugung für die Unternehmensziele ein, sondern weiß auch, welche Bedeutung der Mensch für den Erfolg einer Organisation hat.
Trotzdem nimmt seine Arbeitsmotivation seit einiger Zeit kontinuierlich ab. Der Grund: Ein weiterer Aufstieg ist für Wolfgang B., 55 Jahre, nicht vorgesehen, was an sich nicht so schlimm ist, denn er ist gerade mit seiner Position absolut zufrieden. Allerdings bedeutet die Tatsache, dass er als nicht mehr aufstiegsfähig eingestuft wird, auch, dass er nicht mehr aktiv in Entscheidungsprozesse und Belange der Unternehmensführung einbezogen wird. Stattdessen häufen sich immer mehr Vorgaben von oben auf seinem Schreibtisch, die meist nicht ausgereift und praxisorientiert sind, weil beispielsweise seine Erfahrungswerte nicht zurate gezogen wurden. Noch dazu bleibt bei dem ständig steigenden Chaos in puncto Prozessabläufe und Führungsstrategien sein eigentliches Kerngeschäft und sein größtes Potenzial auf der Strecke: die direkte Arbeit mit seinem Team. Die Folge: Aus dem einstigen „Beweger“ mit hohem Engagement und überzeugter Loyalität droht ein „Konzernbeamter“ zu werden, dem nichts anderes bleibt als der berühmte Dienst nach Vorschrift. Mit einem Unterschied: Der Dienst nach Vorschrift erfordert mehr Überstunden denn je.

Eigentlich wäre in so einem Fall die innere Kündigung vorprogrammiert, doch da kommt das zweite große Problem der Führungskräfte 50+ zum Vorschein. In den 20ern, 30ern oder auch noch in den 40ern fällt die Entscheidung deutlich leichter, bei wachsender Unzufriedenheit mit dem eigenen Arbeitsplatz, zu kündigen, und sich nach etwas anderem umzusehen. 50+ überlegt sich eine Kündigung mindestens zweimal, denn dann wird man auf dem Arbeitsmarkt ganz schnell zum Ladenhüter. Also lautet die Devise meistens ausharren und auf die Rente warten. Ein Verlust an Leistungsmotivation, den sich Unternehmen heutzutage angesichts der Bevölkerungsentwicklung und Globalisierung eigentlich nicht mehr leisten können.

Viel zu oft wird übersehen, wie viel Wissen und Engagement in erfahrenen Führungskräften 50+ steckt und was für einen entscheidenden Beitrag sie dadurch für die Wirtschaft leisten können. Ihnen wird häufig unterstellt, nicht mithalten zu können, dabei ist es genau umgekehrt. Gerade weil Menschen 50+ auf Basis langjähriger und vielfältiger Erfahrungen in ihrer Persönlichkeit gefestigt sind, und deutlich mehr in sich ruhen als Jüngere, sind sie prädestiniert, um die zunehmend komplexeren Anforderungen des Arbeitsmarktes in einer Zeit stetigen Wandels zu bewältigen und sozusagen ein Fels in der Brandung zu sein. Nicht zu vergessen die Fähigkeit, Wissen und Erfahrungen in andere Bereiche zu transferieren, was einen bereits zurückgelegten Berufsweg voraussetzt. Noch dazu regt sich bei vielen Führungskräften nach einer Phase, in der sie sowohl durch den Job, als auch durch die Familie in Form von Kindererziehung etc. gefordert waren, der Wunsch, noch mal „etwas zu reißen“, sich noch einmal voll und ganz auf die Karriere zu konzentrieren. Unternehmer, die ihren besten Leuten diesen Wind aus den Segeln nehmen, schaden sich nur selbst.

Wie aber sieht die schlauere Strategie in puncto Personalmanagement 50+ aus? Was können Unternehmen tun, um das Potenzial ihrer erfahrensten Führungskräfte optimal zu nutzen? Zum einen logischerweise nicht den Fehler begehen, bewährte Topspieler auf die Reservebank zu verbannen. Wer bereits mehr als zwei Jahrzehnte Karriere hinter sich hat, weiß zu 99 Prozent ganz genau, wo seine eigenen Stärken liegen und wie er diese am besten einbringt. Auf dieses gewachsene Wissen und Know-how zu vertrauen, ist daher der beste Umgang mit Senior Professionals.
Was viele Unternehmen außerdem komplett übersehen, ist die wichtige und vor allem nutzbringende Rolle als Mentor für die viel umworbene Generation Y, die erfahrene Führungskräfte ausfüllen können. Dabei geht es keineswegs darum, als Lehrmeister zu fungieren, sondern vielmehr als Sparringspartner, der ebenso von dieser Zusammenarbeit profitiert wie der Unternehmensnachwuchs. Denn beruflich längst erfolgreich, haben die 50+ler noch ein weiteres wichtiges Anliegen: Sie wollen ihr Potenzial teilen und weitergeben und sehen darin zu einem großen Teil den Sinn ihrer Karriere.
Wer also einerseits Synergieeffekte im Miteinander von Young Professionals und erfahrenen Führungskräften nutzt, und andererseits diese Aspekte auch beim Recruiting beherzigt, ist auf dem besten Weg, Mitarbeiter und Führungskräfte jeglichen Alters effektiv einzusetzen und optimales Personalmanagement zu betreiben.

Fazit: Angesichts dieser ganz klaren Stärken erfahrener Führungskräfte und vor dem Hintergrund des deutlich erhöhten Renteneintritts- und Lebensaltersalters, ist ein Umdenken längst überfällig und die Klassifizierung „50+“ für ältere Arbeitnehmer“ längst nicht mehr zeitgemäß. Die besser Definition wäre: „50+“ = „Mitten im Leben“.

Brigitte Herrmann, Inhaberin von inspirocon.Potenzialmanagement im Business, war 15 Jahre als selbstständiger Headhunter tätig. Als Kooperationspartner von Personalberatungen besetzte sie Spezialisten- und Führungskräfte-Positionen – im Topmanagement vom Geschäftsführer bis zum Vorstand.
Heute zählen zu ihren Kunden renommierte Mittelstandsunternehmen und internationale Konzerne aus Industrie und Dienstleistung. Als Branchen-Generalistin und mit der Erfahrung aus mehr als 7.000 qualifizierten Interviews gehört sie zu den Profis in der Profil- und Potenzialanalyse. Neben Ihrer Vortragstätigkeit als Business-Speaker begleitet sie Fach- und Führungskräfte sowie Unternehmer/innen bei beruflichen Entwicklungsprozessen und zu den Themen Selbstmarketing und Positionierung.
Brigitte Herrmann ist zudem Vortragsrednerin und Autorin. Informationen hierzu finden Sie unter www.brigitte-herrmann.de.

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