Die süße Not der Beachtung

Warum der Mensch an mangelnder Zuwendung ebenso zugrunde gehen kann wie an Hunger – und wie eine ganze Gesellschaft süchtig nach Sichtbarkeit wurde.

Die süße Not der Beachtung

Reinhard F. Leiter, Executive Coach

Autor: Reinhard F. Leiter, Executive Coach München (Abdruck honorarfrei)

Stimmungsbarometer:unverb. KI-Analyse*

Für Abraham Maslow, den Architekten der humanistischen Psychologie, ist Beachtung kein Luxusgut der Seele, sondern die Grundnahrung des Daseins – so elementar wie Brot, Wasser oder Vitamin C. Ein Mensch, dem niemand mehr in die Augen sieht, welkt dahin wie ein Blatt ohne Sonne. Mangel an Beachtung, das zeigen Geschichte und Medizin, ist kein seelischer Schnupfen, sondern kann tödlich enden – schleichend, still, auf Raten.

Das wussten die alten Griechen schon lange, bevor die Psychologie erfunden wurde. Sie erzählten von Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte, und von Echo, die, nachdem sie verschmäht worden war, nur noch die Worte anderer wiederholen konnte. Es sind zwei Figuren, die im Grunde unsere Gegenwart vorwegnehmen: der Selbstbesessene und die Nachsprecherin – Instagram avant la lettre. Beide sterben am selben Mangel, nämlich der Unfähigkeit, gesehen zu werden, ohne sich dabei zu verlieren. Wer nie lernt, sich selbst anzuerkennen, bleibt abhängig vom Blick der anderen. Er lebt im Außen, hechelt nach Bestätigung und „ertrinkt“, wie Narziss, in der spiegelnden Oberfläche seines ungestillten Begehrens – und verliert dabei die Tiefe seiner eigenen Einzigartigkeit.

Das Experiment des Schweigens

Der Umgang mit dieser Sehnsucht nach Beachtung wird früh geprägt, lange bevor man weiß, wonach man sucht. Ein Säugling schreit, wenn er Hunger hat oder wenn ihn ein unbekanntes Gefühl erschüttert. Doch während wir lernen, den Hunger mit Messer und Gabel zu zähmen, bleibt die Sehnsucht nach Beachtung roh, unzivilisiert und unbewusst. Kaum jemand lernt, sie zu kultivieren, zu dosieren und zu schenken. Der Arzt, Psychotherapeut und ZIST-Gründer Wolf Büntig beschreibt in seinen Selbsterfahrungsseminaren Experimente, die zeigen, wie früh die Seele auf Resonanz angewiesen ist – und wie tödlich das Schweigen sein kann.

Kaiser Friedrich II. von Sizilien, ein Aufklärer im mittelalterlichen Gewand, wollte wissen, wie Sprache entsteht. Zu diesem Zweck ließ er Kinder schweigend aufwachsen. Sie starben. Nicht an Hunger, sondern an der Stille. Wolf Büntig nennt das, was damals keiner benannte, beim Namen: Mangel an Zuwendung. Man kann an Sprachlosigkeit sterben – und an der Kälte, die sie begleitet.

Geboren im Blick des anderen

Einige Jahrhunderte später stand Konrad Lorenz im Teich seiner Graugänse und wurde zur Mutter. Die frisch geschlüpften Tiere folgten allem, was sich bewegte und Geräusche machte – egal, ob Gans oder Gelehrter. Die Verhaltensforschung nannte dieses Phänomen Prägung, die Psychologen Klaus und Kennell bezeichneten es später als Mutter-Kind-Bindung. Doch im Kern ging es um etwas Archaischeres: den ersten Blick, der sagt: „Du gehörst hierher.“ Schon im Mutterleib tanzen Mutter und Kind in einer stillen Symbiose aus Puls und Atem. Wenn das Neugeborene mit seinem Schrei die Welt begrüßt, sucht es nicht die Milch, sondern den Blick der Mutter. Dieses Leuchten in den Augen der Mutter ist der erste Vertrag des Lebens.

Ein wortloses „Willkommen“. Wo dieser Blick fehlt, wächst ein Mensch heran, der sich nie ganz eingeladen fühlt. Er irrt durch die Welt wie ein Gast, der das Haus betritt, ohne dass jemand die Tür öffnet. In dem Maß, wie eine Mutter Zuwendung schenkt, kann sich das Kind verankern – in sich selbst, in der Welt und im Vertrauen. Fehlt diese Resonanz, zieht sich die Seele zurück. Das Ich wird brüchig und die Welt erscheint als ein Ort latenter Fremdheit. Und wenn dann noch Stress hinzukommt, stürzt das fragile Gleichgewicht – der Mensch verliert seine innere Gravitation.

„Ich existiere nicht.“

Wolf Büntig, Arzt und Psychotherapeut, begegnete in seiner Arbeit Menschen, deren Seele sich zurückgezogen hatte wie eine Schnecke in ihr Gehäuse. Diagnose: Schizophrenie. Doch hinter den klinischen Etiketten verbarg sich oft eine schlichte, grausame Erfahrung – nicht erkannt worden zu sein. Viele dieser Menschen erzählten von einer Kindheit, in der ihre Eigenart nicht gespiegelt, sondern korrigiert wurde. Sie wuchsen auf wie Fremde im eigenen Haus. Unter Druck lernten sie, den Kontakt zu sich selbst zu kappen – eine stille Überlebensstrategie. Einer von ihnen, der diesen Mechanismus durchschaute, antwortete auf die Frage nach seinem Befinden mit einem Lachen: „Ich existiere nicht.“ Ein Satz wie ein Faustschlag. Solange er nicht da war, konnte ihn auch niemand mehr verletzen. Kein Mangel an Zuwendung, keine erinnerte Gewalt, kein Blick, der ihn verfehlte. Das Nichtsein als letzte Bastion des Selbstschutzes – tragisch und genial zugleich.

Fehlt die frühe Resonanz, wird das Ich porös. Was bleibt, sind Ersatzkonstruktionen: narzisstische Störungen, autistische Rückzüge, das gesamte Spektrum der Überlebenskunst. Denn das, was wir Aufmerksamkeit nennen, ist mehr als bloß ein gesellschaftliches Schmiermittel. Es ist der Sauerstoff unserer Identität.

Geben und Nehmen

Der Sufi-Autor Idries Shah brachte es lakonisch auf den Punkt: Nahezu alle menschlichen Beziehungen sind Tauschgeschäfte der Beachtung – Geben und Nehmen, Führen und Folgen, Lehren und Lernen. Wo kein Austausch stattfindet, verödet das Feld. Wo er bewusst geschieht, wächst Vertrauen. Selbst der Versicherungsvertreter ist Teil dieses Systems. Hört er seinen Kunden wirklich zu, erkennt er ihre Sorgen und schwatzt ihnen keine Tarife auf, entsteht Bindung. Er verweigert sich dem Spiel des Selbstzwecks und gewinnt dabei das Kostbarste: Glaubwürdigkeit. Ignoriert er dagegen das eigentliche Bedürfnis, verliert er am Ende nicht nur den Kunden, sondern auch das Prinzip, auf dem Beziehung überhaupt beruht. Denn jede Begegnung, ob privat oder geschäftlich, ist eine kleine Übung in gegenseitiger Sichtbarkeit. Und wer nicht sehen will, wird – früher oder später – selbst unsichtbar.

Sucht als Ersatzreligion des Unerkannten

Die humanistische Psychologie weiß, was der Alltag gern verschweigt: Sucht ist selten eine Frage der Substanz – sie ist ein Symptom der ungehörten Seele. Psychotherapeuten dieser Richtung sehen im unbewussten Umgang mit dem Bedürfnis nach Beachtung den roten Faden, der sich durch fast jede Form der Abhängigkeit zieht. Der Alkoholiker trinkt nicht für den Rausch, sondern gegen das Schweigen. Er betäubt das Gefühl, unsichtbar zu sein – ein Schmerz, der tiefer sitzt als jeder Kater. Andere kompensieren dieselbe Leere mit Arbeit, Status oder Dauerpräsenz – alles Varianten derselben Selbstmedikation: „Ich bin da, also bin ich.“

Auch das Umfeld trinkt mit – aber nicht aus der Flasche, sondern aus der Aufmerksamkeit, die das Drama spendet. Eric Berne, der große Analytiker menschlicher Spiele, schildert in „Spiele der Erwachsenen“ jene Ehefrauen, die durch ihr Klagen über den „furchtbaren Ehemann“ endlich Beachtung finden – allerdings nicht bei ihrem Partner, sondern bei den Nachbarinnen. Das Elend wird zur Bühne, der Schmerz zum Eintrittsticket ins Gespräch. Selbst das Leiden ist marktfähig, solange jemand hinschaut.

Die Ökonomie der Aufmerksamkeit

Konflikte, sagt Wolf Büntig, sind die intensivste Form der Beachtung. Doch in der Führungskultur – besonders in Deutschland – gelten sie als Störung der Ordnung. Je höher die Hierarchieebene, desto dünner wird die Luft für Widerspruch. Man delegiert das Denken nach unten und die Konflikte nach außen. Maslow hätte das als Tragödie der Mitte bezeichnet. Das Bedürfnis, andere zu beachten, ist das am meisten vernachlässigte aller Bedürfnisse. Führungskräfte, die nicht hinschauen, verlieren irgendwann nicht nur die Geführten – sondern auch sich selbst.

Selbst in der Sphäre des vermeintlich Intimsten, beim Sex, spielt sich dasselbe Drama ab. Was als Begegnung gedacht war, wird zum Leistungstest. Beachtung, Zärtlichkeit, Geborgenheit – alles, was nach Schwäche klingt, wird abtrainiert. Stattdessen dominieren Macht und Kontrolle, Technik und Taktik. Sex wird zum Wettbewerb, Liebe zur Disziplin. Doch wer Zuwendung sucht, wird in dieser Arena nicht fündig. Man kann, um Büntig zu paraphrasieren, Durst nicht mit Kartoffeln stillen. Man kann Lust produzieren, aber keine Nähe. Und so bleibt die Beachtung, die wir im anderen suchen, weiter ungestillt – ein Grundbedürfnis, das sich nur stillen lässt, wenn jemand wirklich hinsieht.

Beziehung macht high

Das wusste die humanistische Psychologie schon lange, bevor es die Neurowissenschaft vermessen konnte. Mangelnde Beachtung ist kein kleines Defizit der Seele, sondern ihr größter Entzug. Was Maslow ahnte, bestätigen heute die Hirnscanner: Ein liebevoller Blick, eine Geste der Anerkennung, ein ehrliches „Ich sehe dich“ – all das lässt im Gehirn ein Feuerwerk zünden, das jede Droge in den Schatten stellt. Endorphine, Oxytocin, Serotonin, Dopamin, Adrenalin – das ganze Orchester der Glücksstoffe spielt auf, wenn wir Zuwendung erfahren. Das Gehirn feiert, der Mensch blüht – kurz: Beziehung macht high.

Doch wo diese Resonanz fehlt, sucht der Mensch Ersatz. Sucht ist der verzweifelte Versuch, ein seelisches Loch mit chemischen Stoffen zu füllen. Zucker, Nikotin, Alkohol, Kokain – die Stoffe variieren, das Prinzip bleibt gleich. Und selbst wer abstinent lebt, ist nicht frei.

Beziehungs-, Arbeits-, Ess-, Sex- oder Computersucht sind allesamt Strategien, um das große Schweigen zu übertönen, das dort herrscht, wo Zuwendung fehlt.

Zucker ersetzt keine Nähe

Wir leben in einer Welt, die uns pausenlos Angebote macht, aber kaum Begegnung ermöglicht. Verlockung ist allgegenwärtig, Erfüllung selten. Das Resultat: innere Unruhe, soziale Vereinsamung, psychosomatische Schmerzen – und bei manchen der stille Tod vor dem eigentlichen Ende. Denn das, was uns wirklich nährt, gibt es nicht im Handel.

Wolf Büntig brachte es auf die unnachahmliche Formel: „Wenn das Süße im Leben fehlt, kann es nicht durch Zucker ersetzt werden.“ Ein Satz, der bleibt. Denn er erinnert daran, dass kein Rauschmittel, kein Konsum und kein Erfolg die Leere füllen können, die entsteht, wenn kein Mensch mehr hinsieht. Und vielleicht liegt darin die einfachste und schönste Therapie, einander wieder wahrzunehmen – nicht als Publikum, sondern als Gegenüber.

Über Reinhard F. Leiter
Reinhard F. Leiter war von 1972 bis 1981 in den Funktionen Leiter Aus- und Weiterbildung und Personalleiter in der Bayer Group tätig. Von 1982 bis 2013 leitete er bei Allianz SE das Zentrale Bildungswesen und war Head of Executive Events. Für diese Unternehmen war er auf allen fünf Kontinenten und in über dreißig Ländern tätig.

Reinhard F. Leiter war Gründungsmitglied des „Arbeitskreises Assessment Center-Führungskräfteauswahl und Entwicklung in DACH“ und jahrelang Vorsitzender dieses Vereins.
Er ist heute certified Coach für Unternehmer und Senior Leaders.

Reinhard F. Leiter publiziert regelmäßig.

Neu erschienen sind :

„Global Coaching Excellence? A holistic approach“, Windmühle-Verlag, ISBN 978-3-86451-060-1 gemeinsam mit Dr. Werner Krings.

Reinhard F.Leiter, „Presentation Excellence – A holistic approach“, Windmühle-Verlag, ISBN 978-3-86451-039-7

Reinhard F. Leiter, „Quality Standards of Presentation Excellence“, www.reinhardfleiter.com
Professional Certificate in Coaching (PCIC) / Foundation in Coaching: Henley Business School at University of Reading GB: Certified

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